Süße Träume
Von all meinen Tänzen in dieser Spielzeit gibt mir der, in dem ich das einfachste Kostüm trage, den kürzesten Auftritt und die einfachste Rolle habe, eigentlich eine Menge zum Nachdenken auf. Lesen Sie weiter und Sie werden den Grund entdecken …
Ich bin im Osten aufgewachsen. Das heißt, an der Ostküste der Vereinigten Staaten. In Boston, Baltimore und Bridgewater, New Jersey, war es, wo Betty das ABC gelernt hat, Hunderte von Stunden damit verbrachte, in den Pausen an Klettergerüsten herumzuhängen, und all die anderen Freuden der Kindheit entdeckte.
Obwohl von der Abstammung her Chinesin, wurde ich nie von dem Duft gedämpfter Brötchen geweckt oder von Reisbrei mit getrocknetem Schweinefleisch und diesem merkwürdigen eingelegten Gemüse. Die Zeit des Frühstücks war dafür reserviert, Lucky zu helfen seine Glücksbringer zu finden. Unglaublich, wie ich diese Sternschnuppen liebte. (Anm. d. Red.: Lucky Charms ist ein Cerealienprodukt). In Sommernächten mischte ich mir auf die Schnelle Milchshakes mit dreierlei verschiedenen Ingredienzien, wovon ein Drittel Erdbeer-Sirup war. Im Winter holte ich mir nach der Schule einen Becher heiße Schokolade, aus der ich ganz schnell all die kleinen Marshmallows heraus fischte, sodass sie nie eine Chance hatten, sich aufzulösen.
Durch Kontinente voneinander getrennt, konnte ich nicht erleben, wonach sich Kinder in China in der Hitze des Sommers oder der Kälte des Winters sehnten. Aber ich wusste von etwas, dass sich über alle Meere hinweg außerhalb meiner Reichweite befand … und erkannte später, dass es aus Gründen, die weit misslicher als die Entfernung sind, auf unbestimmte Zeit unerreichbar bleiben würde.
Eine höchst angesagte Leckerei
In Nordchina, wenn es kühler wird und die Neujahrs-Festlichkeiten vor der Tür stehen, bieten Straßenverkäufer eine leckere traditionelle Köstlichkeit an, kandierte Mehlbeeren-Spieße. Auf Englisch hat man den ganzen Mund voll, wenn man von „hawthorn fruit skewers“ spricht. Im Chinesischen sind es jedoch nur drei wohlklingende Silben. Táng-hú-lu (糖葫芦) bedeutet wörtlich „kandierte Kürbisse“.
Es heißt, Táng-hú-lu sei die perfekte Kombination von den Mund zusammenziehenden Mehlbeeren und zwischen den Zähnen klebendem Sirup und von matschigen Früchten und knuspriger Schale. Warum sage ich, „es heißt“? Weil ich noch nie einen probiert habe. Diese Beschreibungen entspringen den Erinnerungen einer Mittänzerin und Schlafgenossin, die in Festlandchina aufgewachsen ist. Sogar als sie versuchte, die Worte zu finden, um mir die Sache zu erklären, wurden ihre Worte durch eine Sturzflut von Spucke unverständlich.
Soviel wie zwei Asien-Touren zurück – ja, unsere Touren sind eine Art, wie wir Shen Yun-Leute die Jahre zählen – war eins meiner touristischen Ziele, den Zauber des tanghulu zu erleben. Damals wie jetzt dürfen wir in China nicht auftreten. Jedoch werden wir in jeder Spielzeit enorm warmherzig von dem kulturell chinesisch orientierten Taiwan begrüßt. Aber nachdem ich eineinhalb Monate lang Tag- und Nachtmärkte zwischen den Aufführungen durchkämmt hatte, stellte ich fest, dass mit einer Zuckerkruste versehene Formosa-Spieße mit Erdbeeren, mehrfarbigen Cherry-Tomaten, Kiwi, Sternfrucht, Drachenfrucht, Guaven und ähnlichem bestückt werden. Exotisch, aber nicht das, was ich suchte. Immerhin macht es Sinn: Im Wendekreis des Krebses findet man keine Büsche wie den Weißdorn. So kratzte ich NT$ 50 (etwa $ 1,50) zusammen, nahm einen Bissen und machte mit meinem Rote-Beeren-Spieß ein Selfie. In Wahrheit allerdings war damit meine Aufgabe nicht ganz erfüllt.
Ein kleiner Traum von mir
Viele Zuschauer sagen, wenn man Shen Yun ansieht, ist es wie in einem Traum. Und für viele unserer Künstler ist Shen Yun der Ort, an dem Träume wahr werden. Sowohl kleine als auch große Träume.
In dieser Saison spiele ich in dem Tanz-Drama Die Entscheidung eines Kindes die ungewöhnliche Rolle einer Süßwarenverkäuferin, die jede Menge von tanghulus feilbietet. Aber eine meiner Kundinnen ist eine Waise, die kurze Zeit später eine tragische Wahrheit entdeckt. Im Jahr 1999, da befanden sich ihre Eltern unter Millionen, die friedlich den spirituellen Glauben Falun Dafa praktizierten, als das kommunistische Regime mit der Verfolgung dieser Praktik und ihrer Anhänger begann. Sie wurden, wie so viele andere, wegen ihres Glaubens getötet. Die andauernde Verfolgung hat bis heute unzählige Familien auseinander gerissen und diese Geschichte steht beispielhaft für andere.
So wurde ihr Kind zurückgelassen ohne Erinnerungen an seine Eltern oder den Glauben, den sie um alles bewahren wollten. Mehr als zehn Jahre später, süß und unschuldig, kommt sie den Weg daher gehüpft, als mein tanghulu in ihren Blick gerät. Ein Bissen ist alles, was sie bekommt, bevor sie eine bittere Wahrheit zu kosten bekommt; durch ein sprechendes Foto wird vor ihr die Vergangenheit offenbar. Dann wagt sich das Mädchen an eine Suche. Dabei trifft sie alte Freunde und entdeckt Mut, Überzeugung und sehr wichtige Antworten.
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Was Betty betrifft: Ich werde beim Tanzen in dieser Spielzeit in ganz Kanada, den USA und Europa mit der Shen Yun World Company Hunderte von tanghulus verkaufen. Wie säuerlich und zäh und süß und knusprig sie auch sein mögen, so werde ich sie weiterhin nur in meiner Vorstellung kosten.
Ich bin mir sicher, dass wir Shen Yun eines Tages nach China bringen werden. Wir werden die authentische traditionelle Kultur in ihrer Heimat auf die Bühne bringen. Und wenn dieser Tag kommt, werde ich einige Träume auf meiner Wunschliste durchstreichen können – große und kleine Träume.
Betty Wang
Gastautorin
30. Januar 2017